Neue Rechte, Demokratie und Christentum
Erschienen in: theologie aktuell | Ausgabe 4 - Jahrgang 2023/24
In der Öffentlichkeit werden neorechte Parteien oft unter dem Stichwort "Populismus" abgehandelt. In der Alltagssprache suggeriert "Populismus" eine weithin ideologiefreie Politik, die sich bloß den schwankenden Stimmungen des "Volkes" anpasst. In dieser Diagnose liegt jedoch eine gefährliche Verharmlosung neorechter Parteien, die durchaus einer ideologischen Matrix folgen. Die Ideologie "populistischer" Bewegungen ist bereits vor Jahrzehnten von Alain de Benoist, dem Chefideologen der "Nouvelle Droite" in Frankreich, entwickelt worden. Alain de Benoist grenzt die Neue Rechte in zweifacher Hinsicht vom alten Faschismus ab.
Neue Rechte orientiert sich an homogener Demokratie der Antike …
Erstens wird der "alte" Rassismus durch einen "Ethnopluralismus", d.h. durch das Prinzip der Anerkennung verschiedener Ethnien und Kulturen in ihrem jeweiligen Territorium, ersetzt. Zweitens verzichtet die Neue Rechte auf die Option einer gewaltsamen Beseitigung der liberalen Demokratie. Die Neue Rechte verfolgt vielmehr das Ziel einer radikalen "Reform" der Demokratie, die sich an der direkten und ethnisch homogenen Demokratie der Antike orientiert. Tatsächlich hatte Perikles, worauf de Benoist ausdrücklich hinweist, 451 v. Chr. das Gesetz erlassen, dass athenischer Bürger nur sein kann, wer sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von Athenern abstammt.
… und stellen Universalität der Menschenrechte in Frage
In diesem Sinn muss nach de Benoist die Demokratie wieder in eine Gemeinschaft von Bürgern, die durch eine gemeinsame Abstammung miteinander verbunden sind, d.h. in eine "organische Demokratie", umgewandelt werden. Die liberale Idee vorstaatlicher Menschenrechte lehnt de Benoist als eine gefährliche Ideologie, die durch das Christentum und die Aufklärung hervorgebracht worden sind, kategorisch ab. Hegels Deutung der Menschenrechte als Institutionalisierung christlicher Moral wird somit von de Benoist als historische These affirmiert und zugleich inhaltlich negiert. Neorechte Parteien stellen daher die Universalität der Menschenrechte in Frage.
Aushöhlung der modernen rechtsstaatlichen Demokratie
Da die ethnisch verstandene "Nation" über die Menschenrechte gestellt wird, höhlt eine neorechte Politik die moderne rechtsstaatliche Demokratie von innen her aus. Aus diesem Grund versuchen neorechte Parteien im Namen einer völkischen Ideologie, wie dies heute in Ungarn und Polen beobachtet werden kann, die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen und die Gewaltenteilung zu schwächen – insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz und hier wiederum vor allem das Verfassungsgericht.
Gewiss: Auch liberale Demokratien bauen, wie selbst Habermas konzediert, nicht allein auf dem universalistischen Prinzip der Menschenrechte auf, sondern auch auf einem bestimmten Konsens "nationaler Identität". Die neorechte Ideologie löst jedoch die Spannung zwischen universalistischen Menschenrechten und partikularen Ideen nationaler Identität einseitig zugunsten der Nation auf.
"Verteidiger des christlichen Abendlandes" mit "antichristlicher Sicht"
In der Frage, wie die Ethnie inhaltlich näher bestimmt wird, knüpfen neorechten Parteien jeweils an lokale nationalistische Traditionen an. Alain de Benoist vertritt eine antichristliche, dezidiert "heidnische" Sicht der französischen Nation. In ihrer Reaktion auf den politischen Islam verstehen sich jedoch in jüngerer Zeit zahlreiche neorechte Parteien paradoxerweise als "Verteidiger des christlichen Abendlandes". Christdemokrat als Leitfigur der Neuen Rechten
Der Geist neorechter Ideologie ist allerdings bereits seit längerem in andere, vor allem in christdemokratische Parteien eingesickert. Nach Jean-Marie Le Pen und Jörg Haider ist heute Viktor Orbán, ein Christdemokrat, zur Leitfigur der Neuen Rechten aufgestiegen. In der Öffentlichkeit dominiert laut Orbán "nur ein europäisch-liberales Blabla über nette, aber zweitrangige Themen" wie "Menschenrechte, Fortschritt, Frieden Offenheit, Toleranz" ("Weltwoche" Nr. 46/Dez. 2015). Die zentralen Themen seien jedoch das Christentum, die Nation und der Stolz. Besser kann man die neorechte Ideologie, auf der inzwischen auch die ungarische Verfassung aufruht, nicht auf den Punkt bringen.
Dies bedeutet: In der Auseinandersetzung mit neorechten Bewegungen geht es nicht bloß um den legitimen demokratischen Streit zwischen unterschiedlichen ideologischen Sichtweisen zu kontroversen öffentlichen Themen, sondern letztlich um den Bestand des modernen demokratischen Rechtsstaates und um die Universalität der Menschenrechte.
Pervertierung christlicher Moral
Neorechte Parteien werden heute von ultrakonservativen katholischen und evangelikalen Kreisen unterstützt, die sich auf antiliberale Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beziehen. Die Synthese zwischen Christentum und neorechter Ideologie beruht jedoch auf einer Pervertierung christlicher Moral, die, wie Alain de Benoist selbst immer wieder klarstellt, mit einer ausschließlich ethnisch fundierten Politik unvereinbar ist. Aus diesem Grund hatte in der Mitte des 20. Jahrhunderts der katholische Philosoph Jacques Maritain, der an der UN-Deklaration der Menschenrechte maßgeblich mitwirkte, der antiken "Bürgerfreundschaft" die Universalität individueller Menschenrechte gegenübergestellt.
Allianzen zwischen ultrakonservativen ChristInnen und neorechten Bewegungen
Menschenrechte und rechtsstaatliche Demokratie sind eine späte Errungenschaft Europas. Nach dem Scheitern der Ersten Republik fand Österreich erst nach 1955 zu einer stabilen Demokratie. Dies sollte uns vor einer gewissen Arroganz gegenüber dem Scheitern demokratischer Aufbrüche in anderen Weltregionen bewahren.
Auch die katholische Kirche hat sich erst im II. Vatikanischen Konzil in aller Klarheit zu Menschenrechten und Demokratie bekannt, eine Weichenstellung, die heute fatalerweise durch Allianzen zwischen ultrakonservativen ChristInnen und neorechten Bewegungen wieder in Frage gestellt wird. Die christlichen Kirchen stehen daher vor der historischen Herausforderung, dem Wiedererstarken eines illiberalen christlichen Autoritarismus entgegenzutreten.